Bevor Hilary Mantel ihre Booker-Preis-gekürten, beeindruckenden, komplexen und unfassbar gut recherchierten Historienromane Wölfe und Falken schreibt, findet sie in diesem Buch einen ganz anderen Ton und Stil. In Von Geist und Geistern beschreibt Hilary Mantel ihre eigene Geschichte, ihr Leben, ihre Persönlichkeit und zeigt sich so dem Leser in all ihrer Verletzlichkeit und Stärke.
Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit oder eine lückenlose Chronologie schafft es Mantel, dem Leser ihr Leben, Empfinden und was sie geprägt hat, zu beschreiben.
Sie handelt zum Teil ganze Jahre in wenigen Sätzen ab und konzentriert sich stattdessen auf einzelne Schlüsselerlebnisse. Diese Einblicke sind für sie bezeichnend für ihre Persönlichkeit und ihre Entwicklung und bringen so die Person Hilary Mantel dem Leser wahrscheinlich näher als eine detaillierte chronologische Erzählung.
Sie geht z.B. ausführlich auf ihre Wahrnehmungen als Kind ein. Auch ihre Häuser und Wohnungen und die Suche, für den jeweiligen Lebensabschnitt die passende Umgebung und somit den richtigen Platz im Leben zu finden, sind immer wieder ein Thema. Sie beschreibt, wie sie als Kind aus dem Haus der Großeltern und somit aus dem engen Familienverbund und der gewohnten Geborgenheit ausziehen musste. Auch in ihrem späteren Leben ist die Such nach dem für sie passenden und richtigen Haus immer wieder ein Thema.
Neben ihrer Kindheit und Jugend nimmt ihre Krankheit sowie der Umgang und die Ignoranz der Ärzte sowie ihres Umfelds mit dieser einen großen Raum in ihrem Roman ein. Sie beschreibt, wie sich ihr Leben aber auch ihre Persönlichkeit verändert durch die Krankheit, die Schmerzen, die (falschen) Medikamente und ihr sich stark veränderndes Äußeres. Eine weitere Folge der Krankheit ist ihre Kinderlosigkeit, bzw. ihre ungeborenen Kinder, wie Mantel diese beschreibt.
Mantel stellt sich, ihr Leiden und ihre Verluste schonungslos dar und wird somit vom unverstandenen Mysterium zu einer Frau, der man tiefen Respekt entgegen bringt. Man hat das Gefühl, dieses Buch hat sie mehr Kraft und Überwindung gekostet, als jedes andere ihrer Werke, egal wie komplex und facettenreich diese auch sein mögen. Sie thematisiert gleich zu Anfang des Romans die Schwierigkeit, sich diesem Buch zu nähern sowie ihre Lösung dazu.
Ich weiß kaum, wie ich über mich schreiben soll. Welchen Stil ich auch wähle, er scheint sich noch vor Ende des Absatzes wieder aufzulösen. Ich werde einfach drauflosschreiben, denke ich mir, halte die Hände vor mich hin und sage, c’est moi, gewöhne dich daran. Ich werde meinen Lesern vertrauen. Das ist es, was ich den Leuten rate, die mich fragen, wie man es zu einer Veröffentlichung bringt: Vertraut euren Lesern, hört auf, sie am Gängelband zu führen, hört auf, sie zu bevormunden, gesteht ihnen zu, wenigstens so klug wie ihr selbst zu sein
[…]
Früher habe ich gedacht, eine Autobiographie sei eine Form von Schwäche, und vielleicht denke ich das immer noch. Aber ich glaube auch, wenn du schwach bist, ist es kindisch so zu tun, als wärst du es nicht.
Auch die Frage, was der Titel des Buches Von Geist und Geistern oder, im englischen Original, Giving Up the Ghost mit ihrem Leben zu tun hat, beantwortet Mantel im Roman selbst, lässt aber mehrere Interpretationen zu. Einerseits beschreibt sie, dass sie ihren verstorbenen Stiefvater oft als Geist sieht. Auch ihre Scham könnte man als ihren Geist oder ihre Geister interpretieren, die sie im Lauf ihres Lebens loslässt. Für schlüssiger halte ich jedoch ihre eigene Beschreibung der Geister in ihrem Leben als
Facetten unserer Persönlichkeit, die wir nie realisieren konnten. Für jedes Ja stirbt ein Nein, für jeden Jungen, der geboren wird, entsteht der Geist eines Mädchens.
Somit hat jeder Mensch in seinem Leben unzählige Geister angesammelt, da mit jeder Entscheidung, mit jedem Abzweig des Lebenswegs ein neuer Geist entsteht. Der englische Titel Giving Up the Ghost impliziert, dass Mantel sich mit dieser Tatsache abgefunden hat und es geschafft hat, diesen nicht eingeschlagenen Lebenswegen, ungeborenen Kindern und nicht getroffenen Entscheidungen nicht (mehr) nachzutrauern, die Geister aufzugeben und ihr Leben mit all seinen Ereignissen und Entscheidungen anzunehmen.
Mantel, Hilary (2016). Von Geist und Geistern. DuMont Buchverlag: Köln.