In seinem Roman Vom Ende der Einsamkeit blickt Jules, Hauptfigur und Icherzähler des Romans nach einem Unfall von seinem Krankenbett auf sein bisheriges Leben zurück. Im Mittelpunkt stehen dabei seine unbeschwerte Kindheit mit seinen beiden Geschwistern, die mit dem frühen Unfalltod seiner Eltern für ihn zu Ende geht, und die darauf folgende Zeit als Vollwaise, in der er Alva kennenlernt, was den Roman zu einer großartigen Freundschafts- und Liebesgeschichte macht.
In den einzelnen Erinnerungsepisoden rekapituliert Jules sein bisheriges Leben, beschreibt die Beziehung zu seinen Geschwistern und deren Entwicklung sowie seine Beziehung zu Alva.
Neben den Geschichten und Episoden, die Benedict Wells erzählt, beschäftigt er sich durch den ganzen Roman hindurch immer wieder mit den Fragen: Was macht uns zu dem, der wir sind? Welchen Einfluss haben Ereignisse in der Kindheit auf unsere Persönlichkeit und unser Leben?
Schon ganz am Anfang des Romans formuliert er dies ganz konkret:
Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?
Im Fortgang des Romans steht diese Frage sowohl in Bezug auf Jules Leben, aber auch auf das Leben seiner Geschwister und von Alva immer wieder im Raum. So beschreibt er z.B. folgendes Schlüsselerlebnis in der Kindheit der drei Geschwister: sie müssen zusehen, wie der Hund einer fremden Familie im Fluss ertrinkt und keiner helfen kann. Die Kinder sind tief erschüttert und verstört, Jules allerdings weniger wegen des toten Hundes, als davon
Wie das unbeschwerte Glück der Familie von der anderen Uferseite binnen Sekunden zerstört worden war.
Er fährt fort:
Bis jetzt war mein Leben behütet verlaufen, aber offenbar gab es unsichtbare Kräfte und Strömungen, die alles schlagartig verändern konnten.
Wenig ausschweifend, dafür sehr prägnant beschreibt Wells wie der Tod der Eltern die glückliche Kindheit beendet hat:
Während ich mich in den Jahren davor im Innersten sicher gefühlt hatte, gab es nun Momente, in denen ich bemerkte, wie mattes Abendlich in einen schummrigen Flur fiel oder wie die Bäume in der Dämmerung einen gespenstischen Schatten über die Landschaft breiteten, und dann zog sich plötzlich etwas in mir zusammen. […] Wie ein sich ausbreitender Riss nahmen meine Ängste zu.
An sich selbst bemerkt er, dass bestimmte Seiten seiner Persönlichkeit seit dem Tod der Eltern verkümmert sind und er ein anderer geworden ist:
Ich war seit Jahren nicht mehr gewachsen, und während ich in meiner Kindheit einige Anzeichen von Begabung gezeigt hatte, verbrachte ich jene Phase meiner Jugend in anhaltender Tatenlosigkeit. Schon immer hatte ich gerne vor mich hin geträumt, doch daneben hatte es auch eine andere, wildere Seite gegeben. Jetzt, wo sie verschwunden war, zog ich mich immer mehr in mich zurück, und manchmal hasste ich mich im Stillen für das, was aus mir geworden war.
Das Motiv, wie ein einschneidendes Erlebnis in der Kindheit das Leben und einen selbst verändert, zieht sich durch den kompletten Roman. Beispielsweise erklärt er Alva:
Das hier ist alles wie eine Saat. Das Internat, die Schule, was mit meinen Eltern passiert ist. Das alles wird in mir gesät, aber ich kann nicht sehen, was es aus mir macht.
Über die anfangs wenig erfolgreiche und glückliche Zeit nach dem Internat schreibt er:
[…] und tief in mir spürte ich, dass das alles ohnehin nicht mein wahres Leben war. Dass ich es noch immer mit jenem, in dem meine Eltern noch lebten, tauschen würde.
Auch bei seinem Wiedersehen mit Alva Jahre später kommt er immer wieder auf das Thema zurück:
„Dann kennst du ja dieses Gefühl“, sagte ich ruhig, „wenn das Leben von Anfang an durch etwas vergiftet wurde. Wie wenn man schwarze Flüssigkeit in ein Becken mit sauberem Wasser gießt.“
Jules und seine Geschwister werden immer wieder von der Tragödie ihrer Kindheit eingeholt und können sich nie ganz von dieser befreien:
Ich stoße ins Innere vor und sehe ein Bild klar vor mir: wie unser Leben beim Tod unserer Eltern an einer Weiche ankommt, falsch abbiegt und wir seitdem ein anderes, falsches Leben führen.
Andererseits kommt er durch die Charakterisierung seiner Geschwister auch zu dem Schluss, dass bestimmte Eigenschaften eines Menschen inhärent sind, egal, was im Leben passiert.
So ist und bleibt Marty der schlaue Einzelgänger, der Streber, der als Kind mit seinen Ameisenkolonien spielt und Blutproben von sezierten Salamandern und Mäusen untersucht, dann zum Harvard-Überflieger wird und schließlich das Internet vorhersieht und somit ein Vermögen verdient, der aber auch diverse Ticks hat, die er auch in den Lebenslagen, in denen es ihm gut geht, nicht los wird.
Liz hingegen ist schon als Kind die Glamouröse, die mit lauter Stimme spricht, als stünde sie auf der Bühne, alle unterhält, immer ihre Entourage und Verehrer um sich versammelt hat, musisch begabt ist und ihr Leben in jeder Beziehung äußerst exzessiv lebt.
Als wiederkehrendes Bild für die Unveränderlichkeit bestimmter Charaktereigenschaften nutzt Wells den Ausdruck stark im Ei. Er ist eine Art Insider-Witze der drei Geschwister; sie hatten einst in einer Fernseh-Dokumentation gehört, Pharao Ramses II, sei stark im Ei, soll heißen, er sei schon im Mutterleib mächtig gewesen.
Jeder der drei Geschwister und auch Alva sind von den Tragödien ihrer Kindheit geprägt und tun sich deshalb, zumindest gemäß Jules Interpretation, schwerer als andere, ihren Weg und Platz im Leben zu finden. Allerdings wohnt allen vieren eine gewisse Stabilität inne, sei es wegen der ersten glücklichen, behüteten Jahre der Kindheit, die sie im Innersten sicher gemacht haben, sei es wegen ihres ihnen angeborenen Charakters oder wegen beidem. Alle vier finden früher oder später wieder zu sich selbst und zu einem für sie passenden Leben zurück. Noch bevor Jules dies selbst gelingt, sieht er diese Entwicklung bei seinen Geschwistern:
Meine Schwester mochte Jahre gehabt haben, in denen sie sich verirrt hatte, aber nun kam ihr Leben in meiner Vorstellung endlich wieder jenem nahe, in dem unsere Eltern nicht gestorben waren. Sie hatte den Rückweg geschafft, und auch mein Bruder schien wieder bei sich angekommen zu sein.
So erkennen und finden sich Jules und seine Geschwister in ihrer jeweiligen Persönlichkeit immer wieder, nehmen sich in diesen Persönlichkeiten gegenseitig an, und sind trotz längerer Phasen der Trennung eng miteinander verbunden.
Auch Alva und Jules finden sich nach Jahren der Trennung wieder und halten dieses Mal allen Umständen zum Trotz aneinander und an ihrer Liebe zueinander fest; sie knüpfen an dem an, was sie einst hinter sich gelassen haben. Jules beschreibt dies folgendermaßen:
[…] in all diesen Momenten konnte ich beinahe zusehen, wie sich unsere Vergangenheit wieder zart mit unserer Gegenwart und Zukunft verknüpfte.
Ähnlich wie sein früher Roman Spinner hat somit auch Benedict Wells Roman Vom Ende der Einsamkeit eine tröstliche und positive Botschaft; wie sehr seine Protagonisten auch vom Leben gebeutelt werden und ihre Leben deshalb zeitweise verworrene Wege gehen, finden doch alle zu sich selbst zurück und gewinnen ihren Lebensmut wieder.
Neben der wunderbaren Geschichte ist Benedict Wells Roman auch sprachlich grandios, wie die vielen Zitate oben schon zeigen. Bereits in Spinner arbeitet Wells viel mit Sprachbildern. Wirken diese hier aber ab und an noch etwas holprig oder gewollt, hat er sprachlich in Vom Ende der Einsamkeit zur Perfektion gefunden. Oft schafft er es mit ganz wenigen treffenden Worten, komplexe Zusammenhänge, Gefühle und Charaktere zu beschreiben. So kommt man seinen Gedanken, Gefühlen und Romanfiguren ganz nahe, und es entsteht ein richtiggehender Sog, der einem das Buch nicht mehr zur Seite legen lässt. Mit Vom Ende der Einsamkeit schafft Benedict Wells es, einen in seinen Bann zu ziehen und ein riesiges Lesevergnügen zu bescheren.
Wells, Benedict (2018). Vom Ende der Einsamkeit. Diogenes Verlag AG: Zürich.