4321 von Paul Auster

In seinem Roman 4321 spielt Paul Auster ausgiebig mit der „was-wäre-wenn-Überlegung“. Was bedeutet es für den großen Lebensverlauf, wenn ein winziges Detail, ein kurzer Moment auf die eine oder eben die andere Art verläuft? Was bedeutet es, wie eine Entscheidung im Leben, der man im Moment des Entscheidens keinerlei Bedeutung zumisst, getroffen wird? Kann das Leben wirklich komplett auf den Kopf gestellt werden abhängig davon, ob man einen bestimmten Schritt macht oder nicht? Oder andersherum: Welche Situationen, Handlungen, Entscheidungen sind es, die unser Lebensglück oder -unglück bestimmen? Gibt es so etwas wie Schicksal, ist unser ganzer Lebensweg eine Verkettung von Zufällen oder folgt unser Leben durch unsere Persönlichkeit und Vorlieben einer bestimmten Bahn und lässt sich durch alltägliche Entscheidungen und Ereignisse von dieser auch nicht abbringen?
Um all diese Fragestellungen geht es in Paul Austers gut 1.200 Seiten schwerem Werk.

Die Hauptperson des Romans ist der junge Archie Ferguson, der in den 50er Jahren in und um New York aufwächst und durchaus autobiographische Züge zu Auster selbst aufweist. So sind beide Nachkommen jüdischer Einwanderer, haben eine Vorliebe für Baseball und Literatur und haben sich jeweils schon früh auf verschiedenste Weisen schriftstellerisch betätigt.

Austers Roman beginnt mit Kapitel 1.0, in dem er Archies Familie und deren Geschichte bis zum Tag von Archies Geburt umreist. Ab dann ist jedes Kapitel viergeteilt, d.h. es gibt ein Kapitel 1.1, ein Kapitel 1.2, 1.3 und 1.4, gefolgt von den Kapiteln 2.1, 2.2 und so weiter. In jedem dieser Unterkapitel gibt es kleine Unterschiede, andere Ereignisse und Entscheidungen bestimmter mit Archies Leben verbundener Personen, die dazu führen, dass es im Großen und Ganzen zwar immer um dieselben Personen und hauptsächlich natürlich um Archie geht, die Geschichte in den Unterkapiteln x.1 sich aber grundsätzlich anders entwickelt als die Geschichten in den Unterkapiteln x.2, x.3 und x.4.

Archie führt in jeder der vier Geschichten ein unterschiedliches Leben, und jede der vier Geschichten hat einen sehr unterschiedlichen Ausgang. Trotzdem ziehen sich Archies Persönlichkeit und seine Vorlieben als Konstanten durch das Buch. So spielt Archie zum Beispiel in jeder der Geschichten gerne Baseball oder Basketball, hat zumindest in zwei der Geschichten eine Vorliebe für Frankreich, wo er jeweils auch eine längere Zeit verbringt, verliebt sich in drei der Geschichten in das gleiche Mädchen und hat in jeder der vier Geschichten einen ausgeprägten Hang zur Literatur und zur Schriftstellerei, der jeweils in unterschiedlicher Form zum Ausdruck kommt; sei es als Herausgeber einer Kinderzeitschrift, in einem Schülerjob, in dem er Basketballspiele für die lokale Wochenzeitung kommentiert, beim Verfassen von Filmkritiken, bei seiner Arbeit für eine Studentenzeitung, bei seiner Entscheidung, Schriftsteller zu werden, nachdem er Schuld und Sühne gelesen hatte, beim Übersetzen von Gedichten aus dem Französischen, bei seiner Arbeit als Journalist für eine Tageszeitung und nicht zuletzt als Kurzgeschichten- und Romanautor.

Da das Personal der vier Geschichten zumindest zu Beginn jeweils fast identisch ist, und auch gemäß des jeweiligen Charakters authentisch agiert, sich aber auf Grund diverser Begebenheiten unterschiedlich verhält und entwickelt, ist es immer wieder eine Herausforderung für den Leser, zu wissen, in welcher Geschichte er sich gerade befindet. Gerade diese Schwierigkeit, die Kontexte auseinanderzuhalten, führen ihm aber auch immer wieder die grundsätzliche Frage vor Augen, was es ist, das unser Leben bestimmt und darüber entscheidet, wie es verläuft.
Will heißen, das Buch erfordert eine gewissen Konzentration, ist aber keinesfalls anstrengend zu lesen oder gar zäh. Es entwickelt viel mehr einen Sog und man wünscht sich die ganze Zeit beim Lesen, dass man nie auf Seite 1259 ankommen wird, sondern immer weiter Archies verschiedene Leben miterleben kann.
Sehr faszinierend sind außerdem die Passagen, in denen Auster detailliert beschreibt, wie Archie in verschiedenen Situationen daran arbeitet, ein guter Schriftsteller zu werden. Er beschreibt, wie Archie seine Tagesabläufe und sein Leben so organisiert, dass er darin stundenlang Zeit für seine Texte hat, wie er seine Texte wieder und wieder überarbeitet und an ihnen feilt und gipfelt jeweils in Archies Freude und Zufriedenheit, wenn ein Text tatsächlich fertiggestellt ist und in einigen Fällen sogar veröffentlich wird. Beim Lesen dieser Passagen kann man sich sehr gut vorstellen, wie Austers eigene Texte entstehen, wie er arbeitet und wie jeder seiner Sätze wohlüberlegt und durchdacht ist, und es entsteht ein fast schon voyeuristisches Vergnügen…

Um jedoch nicht zu viel zu verraten, gibt es abschließend nur noch zu sagen:
Paul Austers 4321 sollte am besten gelesen werden, wenn man Zeit hat, dran zu bleiben. Dann ist der Roman Lesegenuss pur und zu 100% empfehlenswert.

Auster, Paul (2017). 4321. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg.

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